08 Nov

Raritäten in Vevey

Die teilweise überdeckte 16-m-Drehscheibe, für beide Spurweiten. Bild vom 13.4.2006,  

Vevey erhielt 1861 seine erste Eisenbahn. Allerdings dampften am Südufer des grossen Sees die Züge schon 2 Jahre früher bis Le Bouveret, vielleicht ein Rest des Walliser Denkens zum Anschluss ans Mittelmeer via Genfersee und Rhone (vergleiche Stockalper-Kanal). 1892 wurde am nördlichen Ufer das 2. Gleis ergänzt, wobei man bereits den künftigen Transitverkehr nach Italien im Auge hatte.

Vor und um 1900 erlebten Vevey wie auch das (fast) benachbarte Montreux einen unerhörten Aufschwung. Der internationale Tourismus blühte auf, luxuriöse Hotels und viele Bergbahnen wurden gebaut. Für Vevey traf eher das Wachstum von Industrie und Gewerbe zu. 1867 begann Heinrich Nestlé mit der Produktion von Säuglingsnahrung. Heute hat der Konzern einen internationalen Spitzenplatz; dem Konglomerat unterstehen über 2000 Markennamen. Der Sitz ist immer noch in Vevey, in jenem Y-förmigen Verwaltungsgebäude, welches 1960 anstelle des früheren Grand-Hotels gebaut wurde. Letzteres dürfte mit ein Grund für die Strassenbahn zum Schloss Chillon gewesen sein, welche 1889 als erste elektrische Bahn der Schweiz in die Geschichte einging und 1956 – 1958 durch den heutigen Trolleybusbetrieb VMCV abgelöst wurde. Am gleichen Standort Vevey-Plan lagen auch eine eigene Schiffshaltestelle der CGN sowie – immer noch – die Talstation der Standseilbahn zum Mont Pèlerin (VCP, heute MVR).

In dieser Wachstumsphase wurden 1901 der Güterschuppen von Vevey, einst nördlich der SBB am Abfahrtsplatz der späteren CEV, gegen Westen verschoben, 1905 die Gleisanlagen wesentlich erweitert und 1909 ein imposantes Bahnhofgebäude errichtet. Dabei spielten die neuen Bahnstrecken nach Chamby (1902, zum Anschluss an die MOB) und Puidoux-Chexbres (1904) eine wichtige Rolle. Für die Grösse der Bahnhofgebäude von Vevey und Montreux spielte bereits die internationale Simplonlinie mit, welche damals im Bau war und 1906 eröffnet wurde.

1987 konnte das exotische Stück noch im Original besichtigt werden. Links aussen der zusätzliche Rollwagen

Im Norden des Bahnhofes Vevey befand sich seit jeher eine eigentümliche Gleisanlage, welche früh mein Interesse weckte. Nesté hatte hier seine Fabrikationshallen, welche mit einem normalspurigen Gleisanschluss bedient wurden. Dieser bog am nördlichsten Gütergleis (6) ab und erreichte über eine Drehscheibe das um 90o verwinkelte Anschlussgleis, wobei erst noch die 3 Schmalspurgleise der CEV zu queren waren. Diese 5,6 m lange Drehscheibe genügte für die immer länger werdenden Achsstände nicht mehr; so wurde sie um 1950 mit einem zusätzlichen äusseren Rollwagen (Originalton: chariot-satellite) des französischen Typs Marjollet erweitert, damit auch längere Güterwagen (bis 7,7 m Achsstand) transitieren konnten. Eine nochmalige Erweiterung auf äusserem Fundament erlaubte ab 1982 sogar Wagen 9 m Achsstand. Diese landesweit wohl einzige Anlage wurde schrittweise abgebaut, denn 1997 wurde hier die Zustellung abgebrochen. Im Juli 2017 wurde dieser interessante, bereits zubetonierte Anlageteil mit einem Teerbelag überzogen, womit die letzten Spuren unsichtbar wurden.

Im Jahre 2008 war die kleine Drehscheibe bereits aufgefüllt und diente als Parkplatz.

Ein elektrischer Traktor Te 1/2, mit Baujahr 1921, besorgte das Rangieren. Nicht nur Nestlé, auch andere Firmen wurden zeitweise bedient: eine Brauerei, der Schlachthof (Vieh ab GFM ohne Umlad, weil auch schmalspurig erreichbar), die Mühle Margot. Nach 1970 wurden wegen der bekannten Reduktionen des CEV-Netzes die Schmalspurgleise überteert.

Aufnahme von 1998

Das eigenartige Rangierfahrzeug war 5,4 m lang, hatte einen Achsstand von nur 1,7 m, eine (theoretische) Höchstgeschwindigkeit von 8 km/h und stirnseitig eine Seilwinde (im Bild abgedeckt) mit Umlenkrollen eingebaut. Damit konnten Wagen über eine zweite Drehscheibe ins Innere der Fabrik gebracht werden.

Eigenartig sind die verschiedenen Raddurchmesser. Man verwendete (wahrscheinlich aus Kostengründen) beim Bau oder späteren Umbauten Occasionsmaterial; so kommt es, dass verschiedene Achsbüchsen (NOB und GB) zu sehen sind. Dieses eigenartige Fahrzeug leistete unter CEV-Gleichstrom von 800, später 900 Volt seinen Dienst über 75 Jahre lang, zunächst unter der Firmenbezeichnung «Nestlé and Anglo-Swiss Condensed Milk Co.» und später für die Anschlussgleise im Gebiet «Ginguette». Nach seiner Ausrangierung kam es 1998 zur Vereinigung «Swisstrain» nach Le Locle, wo es 2015 in desolatem Zustand angetroffen wurde. 

Bericht und alle Fotos: Ruedi Wanner

sh. auch: Bahnen an der Waadtländer Riviera,Teil 1: Einleitung und Simplonstrecke, EA 8/2007 S. 431 – 436 (traduction française pages 437 – 441) des gleichen Autors.

Fortsetzung über Vevey – Chexbres: EA 9/2007, Adhäsions-Schmalspurbahnen MOB, MVR, BC: EA 10/2007 und über die Zahnradbahnen: EA 11/2007.

 

 

26 Okt

Luzern: Gleis im Fluss

Ansicht flussabwärts, links die «Nadeln». Das Gleis endet beim roten Kasten für den Rettungsring, Foto R..Wanner, 2. 8. 2017

Mitten in der Stadt Luzern, oberhalb der Spreuerbrücke, existiert seit 1861 ein seltenes Nadelwehr, mit welchem der Seespiegel und somit der Abfluss in die Reuss reguliert werden. Auf diesem Wehr bestehen ein Gleis für eine Rollbahn und eine einzige Weiche.

Ansicht flussaufwärts, Schienen und Weiche. Rechts der Schuppen, links das zum Kraftwerk strömende Wasser. Foto R. Wanner, 2. 8. 2017

Nadel-Setzgerät, das Trieb- und Arbeitsfahrzeug der Reussnadelwehr-Bahn. Foto H. Furgler, 1. 5. 2014

Die Bahn dient dem Transport der  hölzernen Wehrelemente («Nadeln»). Länge der in den Fluss hinausführenden Strecke ca. 90 m, übrige Gleise etwa 60 m, Spurweite exotische 1453 mm. Das Areal ist nur auf Distanz einsehbar, Betreten für Private verboten.

Nadel-Setzgerät im Schuppen, Foto H. Furgler,1. 5. 2014.

Im Schuppen wartet eine eigenartige Maschine (Nadel-Setzgerät) auf den nächsten Einsatz; sie ist selbstfahrend und hat einen schwenkbaren Kranaufsatz für das Setzen und Entfernen der Nadeln im Längswehr. Die Rollwagen stehen im Freien.

Seitenansicht des Nadel-Setzgerätes, Foto H. Furgler, 1. 5. 2014

Die 175 hölzernen Nadeln werden je nach Bedarf eingesetzt oder entfernt; sie sind 3,5 m lang und 18 cm dick. Ihr beachtliches Gewicht von 30 kg erfordert – im Stirnwehr (quer zum Fluss) – viel Kraft und grosses Geschick beim Einsetzen und Herausziehen, letzteres gegen den Druck der Strömung (Filmmaterial dazu auf Youtube). Das damit auf schmalem Steg beschäftigte Personal ist zur Sicherheit angeseilt. Die beim Ausfluss anzustrebende Seehöhe liegt bei einer Bandbreite von 433.45 bis 434 m, wobei 433.25 als Minimum für die Kursschifffahrt und 434.45 als kritische Hochwassermarke gelten.

Das Nadelwehr hat aber auch die Funktion, das Wasser der Reuss zum rechten Ufer zu leiten und damit das Kraftwerk Mühlenplatz zu betreiben. Schon seit dem Mittelalter waren hier Mühlen angesiedelt; nach 1889 erzeugte ein Kraftwerk zunächst mechanisch übertragene Energie (seit 1926 über einen Generator, bis 1977). Die minime Gefällsstufe von etwa 1,5 m treibt seit 1998 mittels 60 m3 pro Sekunde zwei Kaplanturbinen an und erzeugt damit Strom für 1000-1500 Haushaltungen oder 3 Mio. kWh pro Jahr. Ein Wasserstrahl verdeutlicht mit seiner Wurfweite die jeweilige Leistung.

Ruedi Wanner

Herzlichen Dank für die Unterstützung an Ruedi Werder und Hans Furgler.

Eine akribische Dokumentation findet sich im Heft Werkbahnreport 18,

Autoren Hans Furgler und Ruedi Werder, Herausgeber Michael Lenk, Am Wochenend 9, D-01744 Dippoldiswalde/OT Malter

https://www2.htw-dresden.de/~hfd/werkbahnreport/index.html