04 Feb

Die Schweizer Epoche bei der Strassenbahn Toronto geht zu Ende

Lange Jahre hielt sich die Strassenbahn Toronto mit Gelegenheitskäufen von PCC-Wagen aus verschiedenen Städten über Wasser. Diese waren im Zuge des Strassenbahnsterbens auf dem nordamerikanischen Kontinent relativ einfach erhältlich, mussten jedoch für den Betrieb in Toronto auf das abnorme Mass von 1495 mm umgespurt werden. Für Tram- und speziell PCC-Fans war der letzte kanadische Trambetrieb daher lange Zeit ein richtiges Eldorado.

 

PCC 4526 im August 1969 (Foto Rosenberg)

Glücklicherweise konnte die auch in Toronto einst vorgesehene Betriebseinstellung verhindert werden, doch war die Erneuerung des überalterten Fahrzeugparks dringend notwendig. Mangels diesbezüglicher Industrien auf dem nordamerikanischen Kontinent (diese hatten den Bau von Strassenbahnen längst aufgegeben), beauftragte die Toronto Transport Commission (TTC) die Schweizerische Industriegesellschaft in Neuhausen (SIG) mit dem Bau von 6 Prototypen einer neuen Fahrzeuggeneration. Im Gegensatz zu den wesentlich moderneren Strassenbahnfahrzeugen, welche sich in Europa um diese Zeit bereits in Betrieb befanden, basierte das Modell für Toronto noch weitgehend auf dem PCC Design. Insbesondere sollten wiederum nur vierachsige allein fahrende Triebwagen mit zwei Türen, Stangenstromabnehmer und Pedalsteuerung die PCCs ersetzen. Die Wagen wurden ursprünglich mit Kupplungen zur möglichen Zugbildung abgeliefert. Diese wurden jedoch nach einigen Jahren wieder entfernt, wodurch die Strassenbahn ihre klassischen Vorteile gegenüber einem Busbetrieb nicht wirklich ausspielen konnte. 

Für einen Versuchsbetrieb in der Schweiz wurde die Orbe – Chavornay – Bahn (OC) ausgewählt, welche mit Normalspur und einer Betriebsspannung von 750 V Gleichstrom dem Betrieb in Toronto am nächsten kam. Allerdings mussten für diesen Versuchsbetrieb zwei Fahrzeuge vorübergehend mit Normalspurdrehgestellen und Pantograph ausgerüstet werden. Dank den vorhandenen Kupplungen wurden zu diesem Zeitpunkt auch Versuchsfahrten in Doppeltraktion unternommen. Die nachstehenden Bilder zeigen eines der Versuchsfahrzeuge (Nr. 4001) am 10. September 1977 in Gesellschaft des betagten OC-Gütertriebwagens Fe 2/2 Nr. 32 in Orbe.

Das erste als „Canadian Light Railway Vehicle“ (CRLV) bezeichnete Fahrzeug aus Schweizer Produktion erreichte Toronto am 29. Dezember 1977 und wurde ausführlichen Tests unterworfen, bevor der Betrieb mit Passagieren im September 1978 aufgenommen werden konnte. 

Zusätzlich zu den sechs Prototypen wurden weitere 190 Fahrzeuge unter Lizenz durch Urban Transportation Development Corporation (UTTC) bei Hawker Siddeley Canada in Thunder Bay gebaut. Diese Firma gehört heute zu Bombardier.

Freiluft-Depot „Roncesvalles Carhouse“ am 7. August 1966. Links ist noch einer der zwei für Extrafahrten verbliebenen PCC’s sichtbar.

Wie das folgende Bild zeigt, waren die Fahrzeuge sehr hochflurig. Eingestiegen werden musste vorne beim Wagenführer, wo der Fahrpreis in eine gläserne Zahlbox eingeworfen wurde. Auf Verlangen des Fahrgasts gab der Wagenführer darauf ein Papierbillet, einen sogenannten „Transfer“ aus, welches zum Umsteigen auf ein anderes Fahrzeug (Tram oder Bus) berechtigte.

 

Wagen 4133 am 17. Oktober 2007 in Lansdowne

Wie oben sichtbar ist der Wagen auf Linie 505 unterwegs, welche auch als „Dundas“ bezeichnet wird. Ursprünglich waren die Strassenbahnlinien ausschliesslich mit dem Namen der in der Innenstadt durchfahrenen Strasse bezeichnet (zum Beispiel King, Queen oder eben Dundas). Effektive Liniennummern kamen erst später hinzu, wobei im Volksgebrauch immer noch hauptsächlich der Name verwendet wird. 

Sehen wir uns noch einige weitere Bilder an:

 

Die Wagen 4172 und 4129 begegnen sich bei der Kreuzung King / Spadina auf Linie 711 (Bathurst)
Haltestellen befinden sich vielfach mitten auf der Strasse ohne Plattformen
CLRV 4139 auf Linie 501 (Queen) bei Kipling
Ein nicht ganz ungewohntes Bild sind Trams, welche im Verkehr stecken bleiben und dann paketweise verkehren. Die Wagen Nr. 4070, 4105 und 4147 befinden sich am 15. Mai 2013 auf Linie 511 (Bathhurst )an der Kreuzung von College und Bathhurst Streets.

Im Jahr 1982 wurde ein Prototyp einer auf dem CLRV basierenden Gelenkwagenversion gebaut und als ALRV (Articulated Light Rail Vehicle) mit der Nummer 4900 auf dem Stadtnetz Toronto erprobt und auf der „Canadian National Exhibition“ ausgestellt, bevor er zurück an den Lieferanten UTCD ging und dort nach einem Schadenfall abgebrochen wurde.  Die Ablieferung von 52 Serien-Fahrzeugen mit den Nummern 4200 – 4251 begann im Juni 1987. 

ALRV 4223 auf Linie 501 (Queen) an der Endstation Long Branch

Trotz der Bezeichnung als Articulated LIGHT Rail Vehicle waren diese Fahrzeuge recht schwer geraten und setzten den Geleisen arg zu. Auch war das Konzept mit nach wie vor ausschliesslich Fronteinstieg beim Wagenführer für ein derart langes Fahrzeug alles andere als optimal.

 

ALRV 4224 am 27. Juni 2009 unterwegs in der Innenstadt auf Linie 504 (King)
ALRV 4212 am 16. Mai 2013 bei Broadview Station auf Linie 504 (King)
Einmal mehr zeigt sich, wie sich die Strassenbahnen mit dem Individualverkehr abmühen müssen. Am 17. Oktober 2007 begegnen wir bei Kipling einem „Paket“ der aufgelaufenen Wagen Nr. 4243, 4227 und 4233 auf Linie 501 (Queen)
Dieses Bild von CLRV 4152 (Linie 504 King) und ALRV 4222 (Linie 501 Queen) zeige ich vor allem auch wegen der Gleisanlage. Bei der Kreuzung von King und Spadina handelt es sich um eine sogenannte „Grand Union“, d.h. eine Kreuzung mit Abbiegemöglichkeit in allen Richtungen.

Im Jahr 2009 (!) bestellte die TTC bei Bombardier 204 Flexity Gelenkfahrzeuge zur Ablösung der alternden Flotte von CLRV und ALRV. Wie für uns nicht so ganz ungewohnt wurde auch diese Lieferung zu einer eigentlichen Katastrophe. Bombardier liess die Einzelteile in Mexico herstellen und zur Montage nach Kanada verschiffen. Nur waren diese Einzelteile „mexikanisch“ gefertigt und stimmten nicht mit den vorgegebenen Normen überein, so dass sich unglaubliche Verzögerungen ergaben. Selbst heute, d.h. mehr als 10 Jahre nach Bestellung sind nicht einmal ganz die Hälfte der bestellten Fahrzeuge abgeliefert und ein grosser Teil davon muss wegen ungenügender Schweissungen nochmals zurück ins Werk. Die neuen Wagen (ich habe davon noch keine Fotos) wurden noch mit Stangenstromabnehmern abgeliefert und in Betrieb gesetzt, was ein ziemlich skurriles Bild ergab. Pantographen waren zwar auch schon montiert, konnten jedoch erst etappenweise nach Umbau der Fahrleitung betrieblich genutzt werden.

In der Zwischenzeit hatten jedoch die längst abzulösenden alten Fahrzeuge ein Alter erreicht, welches den Weiterbetrieb mangels Ersatzteilen weitgehend unmöglich machte. Im September 2019 fuhr der letzte ALRV, während am 29. Dezember 2019 von den CLRV’s offiziell Abschied genommen wurde. Damit nahm die Schweizer Epoche in Toronto ein Ende. Mindestens 6 – 8 Fahrzeuge bleiben aber der Nachwelt erhalten, wovon es sich um zwei davon umwog SIG gebauten Prototypen aus der Schweiz handelt. Zwei CLRV’s Wagen bleiben in Toronto für Extrafahrten, während einige weitere CLRV’s und mindestens ein ALRV den Weg in Strassenbahnmuseen gefunden haben. 

Die gegenwärtig verfügbare Zahl an neuen Flexity’s reicht jedoch bei weitem nicht aus zum Ersatz der nun ausrangierten Altfahrzeuge, was bedeutet, dass gegenwärtig mehrere Strassenbahnlinien teilweise oder ganz per Bus betrieben werden müssen. Nach Erfahrungen mit Bombardier in Europa könnte dieser Zustand leider noch einige Jahre andauern…

Geniessen wir zum Schluss nochmals ein schönes Bild eines CLRV’s an der Gerrard Street (Broadview Avenue) an.

Wer gerne die Geschichte der Strassenbahn Toronto noch etwas weiter zurück verfolgen möchte, sollte einen Besuch des Halton County Radial Railway unweit von Toronto ins Auge fassen. Für Details verweise ich auf die Homepage https://hcry.org

Soweit nicht anders bezeichnet stammen alle Fotos von H.R. Ryffel.