28 Mrz

Eine Reise nach Trévillers, 1948

Von Willy Stäheli (1893-1993)

Der Schnellzug Zürich ab 15.43 (Chur ab 13.13) setzte mich minutengenau um 17.40 in Biel ab und um 18.10 rollte sein eilzugmässiger Anschluss in rassigem Tempo den Jurahang hinauf, durchs St. Immertal nach La Chaux-de-Fonds und brachte mich pünktlich um 19.15 nach Le Locle Ville. Einmal mehr bewies diese tadellose Verbindung den hohen Stand unserer schweizerischen Schnellzüge, denn dass man von Schuls, Tirano, St. Moritz und Disentis, um nur die entferntesten Stationen im Osten zu nennen, in ununterbrochener Korrespondenz zum verkehrsungünstige gelegenen Le Locle im Westen reisen kann, bildet doch einigermassen einen Triumph im schweizerischen Fahrplan.

Das amtliche Kursbuch hat zwar in eidgenössischer Fürsorge und Pünktlichkeit den Anschluss des genannten trefflichen Eilzuges an den dritten und letzten französischen Zug als nicht garantiert vorgemerkt. Da aber die Schlange der am Zoll anstehenden Reisenden bis auf den Bahnsteig hinaus reichte, liess es sich an den Fingern abzählen, dass noch Zeit für die Billettlösung und die Zollformalitäten bestand. Und sie bestand wirklich. Mit einer unwesentlichen Verspätung setzte sich der französische Dampfzug in Bewegung, rollte sachte talwärts, hielt im triefenden Regen in Col-des-Roches, stiess nochmals malerische Dampfwolken zum grau verhängten Himmel und fuhr durch den Tunnel hinaus auf französischen Boden.

Auf stark fallender Strecke, durch Tunnels und über prächtige Steinbogenbrücken suchte sich die grosse, schwere Lokomotive den Weg nach Villers-le-Lac, dann nochmals stark fallend zum nieau des Doubs und dann eben bis zum Bahnhof Morteau. Hier mussten alle Leute aussteigen und ins Zollgebäude gehen, um Pass-, Devisen- und Zollkontrollen über sich ergehen zu lassen. Dann endlich war der Weg frei für das Verlassen des Bahnhofes, sofern man sich in Morteau aufhalten wollte.

Die Weiterreisenden durften alsdann wieder im Zuge Platz nehmen. Ich suchte mir ein Hotel. Im ersten Hotel erhielt ich eine Absage. Es sei alles besetzt. Im zweiten Hotel erhielt ich die zweite Absage mit der Begründung, es sei eben Ferien und in Morteau seien alle Betten besetzt. Im dritten Hotel gab man mir den guten Rat, mit dem Zug nach dem 66 km entfernten Besançon zu fahren und am Morgen wieder zu kommen.

Ich ging zum Bahnhof, allwo der Zug noch getreulich wartete; denn der französische Fahrplan ist nicht auf Minutenspalterei eingestellt. Ein junger Mann aber sagte mir, ich möchte es noch mit einem vierten Hotel versuchen, das zwanzig Minuten vor der Stadt, an der Strasse nach der Schweiz gelegen sei. Ich suchte dieses Hotel vor der Stadt auf. Es schien neu und ich hatte es bei der Einfahrt gesehen. In den untern Räumen hantierten noch Maler und Gipser. Nach endlos erscheinenden Versuchen, den Empfangsraum zu erreichen, was in dem arg verwinkelten Gebäude nicht leicht war, erreichte ich den Speisesaal, dessen Decke in hypermodernen Neonlichte strahlte, der bis auf den letzten Platz besetzt war und kaum mehr gute Aussichten für ein Nachtlage verhiess.

Ich ersuchte um ein Bett. Prüfend glitt das Auge des jungen Hoteliers über die Gestalt seines Gastes und dann eröffnete er mir fas verlegen, er hätte schon noch Platz, aber nur im vierten Stock. Ich war mit dem vierten Stock zufrieden und kletterte über noch einige weitere enge Treppen aufwärts und um einige weitere Winkel herum. Dann waren wir im vierten Stock. Über uns wölbte sich der neue Dachstuhl, der ganz neue Ziegel trug. Links und rechts lagen Matratzen, ausgerichtet wie in einer Kaserne und seitwärts hingen Vorhänge aus Emballagenstoff. Hinter einem dieser Vorhänge standen das für mich bestimmte Bett, ein Stuhl und darauf ein Handtuch. Das Bett war breit, sauber und sehr niedrig, und ich erklärte dem Besitzer meine Zufriedenheit. Nachdem ich mich für einen Brandfall noch etwas orientiert hatte, was in dem arg verwinkelten Hause keinen Luxus darstellte, legte ich mich zur Ruhe.

Narbief, 26. 9. 1979

Einschläfernd fielen die schweren Regentropfen auf das Ziegeldach. Der Wind blies durch die Fugen des Dachstuhls, ein Auto flitzte auf der Strasse vorbei und polternd pustete der letzte Zug gegen Le Locle hinauf. Am Morgen war ich früh auf den Beinen, wünschte mein Morgenessen und bekamt es auch in der reduzierten Form nach französischer Art, mit einem Kännchen Kaffee, der in ganz Frankreich gleich schlechter Qualität zu sein scheint und mit einem winzigen Kännlein Milch, das Ganze aber liebenswürdig serviert, wobei man den guten Willen gegenüber der mangelnden Berufstechnik gerne gelten liess. Die Sache war enorm billig, und ich erfuhr, dass solche Unterkünfte „Dortoirs“ genannt werden, dass ganz Morteau voll von Gästen aus den Städten sei, dass die Gäse mit Vorliebe im Doubs fischen oder mit den Motorbooten auf dem Lac des Brenets herumführen. Jeder Gast fahre zudem einmal mit der Bahn nach Le Locle und kaufe dort Schokokade, was aber ein Teures Vergnügen sein dürfte. Man sei eben in Frankreich nicht verwöhnt und froh, wenn man seine Ferien im Jura billig verbringen könne. Und der Jura sei nicht nur schön sondern auch billig.

Ich brachte diese Erscheinung auf den Nenner: „Verbreiterung der Fremdenverkehrsbasis“. Nachdem mir die Wirtin auch noch interessante Auskünfte über die Kriegsfolgen gegeben hatte und ich merkte, dass auch dieses gastliche Haus einen Treffer abbekommen hatte, verliess ich diese Stätte der Renovation mit dem unvermeidlichen Geruch von Staub und Mörtel, frischer Farbe und Kitt und war dank der geringen Rechnung froh gestimmt. Im Lichte des jungen Tages sah ich nun, dass der Turm der Stadtkirche einen Bombentreffer bekommen hatte und ein Notdach trug.

Narbief, 26. 9. 1979
Narbief, 26. 9. 1979

Da ich als Ziel Maîche und Trévillers ausersehen hatte, bestieg ich den Schmalspurzug, der schön manierlich den Anschluss von Besançon abwartete, was in Frankreich bei den privaten Kleinbahnen durchaus nicht selbstverständlich ist. In einem ziemlich neuen Dieseltriebwagen ging die Fahrt flott vonstatten. Zuerst stieg der kleine Zug energisch die steile Rampe auf das Plateau der Franche Comté hinauf, dann rollte er in gutem Tempo über Weiden und durch prächtige Wälder seinem Ziele zu. Die Franche Comté liegt gegenüber den schweizerischen Franches Montagnes (Freibergen) und von diesen nur durch den in tiefer Schlucht brausenden Doubs getrennt. Klima, Vegetation, Höhenlage sind gleich, aber auch die Häuser und der Menschenschlag. An beiden Orten ist die Pferdezucht heimisch, und man sieht oft recht niedliche Idylle, wenn Pferdemutter und Pferdekind weiden. Während man nun aber auf der schweizerischen Seite mit wenig Erfolg sich um die Hebung des Fremdenverkehrs bemüht, ist dieses Bestreben auf der französischen Seite von vollem Erfolg gekrönt; denn in jedem Dörflein, und sei es noch so klein, halten sich Feriengäste auf und begnügen sich an der herrlich frischen Luft und den Freuden des Landlebens.

Les Fontenelles, 26. 9. 1979

Man ist genügsam geworden in Frankreich. An die deutsche Besetzung erinnern noch da und dort Anschriften wie „Rauchen verboten“, oder an den Stationsgüterschuppen stehen Vermerke wie „Leder“, „Geschirr“; denn dort hatte die Wehrmacht ihr Material deponiert. Alle Stationen haben überdies sehr lange Militärrampen erhalten, die wegen Nichtgebrauch bereits langsam zerfallen. In Maîche zeugen neue Ziegeldächer von Beschädigungen an Häusern. In Trévillers endigt die Bahn. Bis Maîche war der Personenverkehr überraschend rege gewesen. Nach den zwei Dörfern Damprichard und Trévillers aber verloren sich nur noch wenige Reisende. Hier oben auf diesem Höhenplateau tobten schwere Kämpfe im Juni 1940.

Frambouhans, 26.9. 1979

Der stille Frieden des abgelegenen Dörfchens umfasste mich. Frauen strickten vor dem einfachen Gasthof, lasen Romane oder illustrierte Blätter, Kinder balgten sich herum oder wurden von den Eltern spazieren geführt. Eine kleine Fabrik wurde wieder aufgebaut und mit einem eisernen Dachstuhl versehen. Die grosse Ruhe und ungestörte Stille der französischen Landschaft lagerte über dem Dorfe. Kühe weideten, und hie und da standen Gruppen prächtiger Pferde auf der Weide. Dann kam die Mittagszeit, und aus allen Winkeln strömten die Feriengäste zum gedeckten Tisch. Die französische Tradition der mit vielen Gängen servierten Mahlzeiten hatte wieder Auferstehung gefeiert, und da dem Gasthof eine Metzgerei angegliedert war, gab es vorerst einmal ein Stücklein Fleischkäse, dann eine heisse Platte mit Kraut und gesottenem Schweinefleisch, hierauf noch einige Schnitten Wurst und zuletzt noch Trauben. Man konnte sich damit genügend ernähren. Das Brot war schwarz und qualitaiv viel weniger fein als bei uns, aber doch bekömmlich. Aber auch hier fand ich, dass die ganze Art des Servierens und die Speisenfolge bei weitem nicht den Stand unseres Gastgewerbes erreichte, dass vieles noch improvisiert ist und dass unsere westlichen Nachbarn durch den Zweiten Weltkrieg in eine unsägliche Genügsamkeit hineinmanöveriert worden sind, die sie aber bewundernswert zu tragen verstehen.

Endbahnhof Trévillers, ganz links im Hintergrund (zwischen Tanne und Baum erkennbar) die ehemalige Remise. 26. 9. 1979

Der Mittagszug aber stand bereits wieder fahrbereit und sammelte nun an jeder Station die Rückreisenden, so dass er bis Morteau bis über den letzten Platz hinaus besetzt war. Es gibt täglich zwei Zugpaare zwischen Morteau und Trévillers, im Sommer aber deren drei, welch letzterer Umstand mit dem Fremdenverkehr zusammenhängt. Die kleine Schmalspurbahn stellte sich mir als die am besten betriebene Kleinbahn vor, die ich in Frankreich zu sehen bekam. Da sie den Fremdenverkehr durch passende Fahrpläne unterstützt, wird durch den Fremdenverkehr auch ihr geholfen, ein Unterschied, den da und dort zum Schaden des Unternehmens der Direktor noch nicht erfasst hat.

Zur Geschichte und dem weiteren Schicksal der Schmalspurbahn nach Trévillers

Nur vier Jahre später, 1952 wurde die meterspurige Schmalspurbahn Morteau – Maîche – Trévillers eingestellt und abgebrochen. Die Strecke Morteau – Maîche (34 km) war 1905, die Fortsetzung Maîche – Trévillers (11 km) 1908 eröffnet worden. Der Bahnbetrieb durch die «Compagnie des Chemins de Fer Régionaux de Franche-Comté» (RFC) war zum 1. Januar 1948 an die « Régie des Chemins de Fer du Doubs » übergegangen, die auch andere Schmalspurbahnen des Départements du Doubs übernahm und einstellte. Beim erwähnten Dieseltriebwagen dürfte sich um den Autorail Nr. 42 von Brissonneau&Lotz gehandelt haben (ex-Réseau d’Anjou), der 1950 noch durch ein gleichartiges Fahrzeug der damals eingestellten Strecke Pontarlier – Mouthe ergänzt wurde.

Im EA 1/2003 hat Ruedi Wanner übrigens diese Schmalspurbahn auch im Artikel „Vergangene Schmalspurromantik in der französischen Nachbarschaft“ beschrieben, mit Winteraufnahmen von 1993.

Zu diesem Blog

Der hier leicht gekürzte Zeitungsartikel von Willy Stäheli erschien am 28. Oktober 1948 unter dem Titel „Fremdenverkehr ennet der französischen Grenze“ in der Zeitung „Der Freie Rätier“. Die Fotos von Christian Ammann entstanden somit 31 Jahre nach Erscheinen des Artikels und 27 Jahre, nachdem der letzte Zug nach Trévillers gefahren war.
Willy Stäheli war von 1917 – 1954 Stationsvorstand in Krummenau und schrieb von den 1920er bis 1970er Jahren unzählige Beiträge zu Bahn-, vor allem auch Fahrplanfragen in verschiedenen Zeitungen der Schweiz, auch in NZZ und TA.

18 Mrz

Standeilbahn-Paradies in Chile

Die Stadt Valparaiso in Chile ist mit einer Rekordzahl von Standseilbahnen wohl einmalig auf der Welt. Der Grund liegt darin, dass diese Hafenstadt in einem Gebiet mit unzähligen Hügeln liegt und zur Erschliessung der Wohngebiete vor über 100 Jahren nicht weniger als 30 „Ascensores“ erbaut wurden. Diese zum Teil recht primitiven und farbenprächtigen Standseilbahnen sind zum Teil bereits seit über 130 Jahren in Betrieb!

Einige der historischen Funiculars sind leider meist in den fünfziger und sechziger Jahren verschwunden, doch bestehen auch heute noch nicht weniger als 16 Ascensores, welche als Unesco Welt-Kulturerbe unter Schutz gestellt worden sind. Bis zum Jahr 2018 waren allerdings nur noch sieben Anlagen in Betrieb, doch sollen auch die übrigen neun restauriert werden und wieder fahren. Ein Besuch in Valparaiso ist also durchaus lohnenswert, wobei allerdings auch erwähnt werden muss dass einige von den Standseilbahnen erschlossenen Gegenden nicht unbedingt zu den sichersten gehören. In einem Fall hat uns ein Polizist unmissverständlich empfohlen, möglichst umgehend wieder die Talfahrt anzutreten…

Die Bilderausbeute meines Besuches am 9. Februar 2013 ist bei weitem nicht vollständig, gibt aber doch einen guten Überblick über die zum Teil recht abenteuerlichen Anlagen.

Beginnen wir mit dem Ascensor San Agustin, welcher seit 1913 auf den Hügel mit dem wohlklingenden Namen Cerro Cordillera führt. 

Der Blick aus dem talwärts fahrenden Wagen auf die halb verfallenen Gebäude zeigt, dass der Wohlstand nicht gerade üppig ist.

Antriebsanlage in der Bergstation. Der Maschinist sitzt hinter den Fensterscheiben.

Als Sicherheitsbremse dient eine Art Zahnstange.

Der zweite, hier bergwärts fahrende Wagen verkehrt auf einem separaten Gleis. Ausweichen nach System Abt sind nicht bekannt.

Der gleiche Wagen von der Talseite aus gesehen. 

Der Ascensor Cordillera führt auf den gleichen Hügel und ist mit Baujahr 1887 einer der ältesten. Zur Zeit unseres Besuches war er allerdings nicht in Betrieb, weshalb wir die lange Treppe erklimmen mussten. 

Oben angekommen – offensichtlich war gerade Waschtag…

Wieder hinunter ging’s dann mit dem Ascensor Artilleria. 

Die beiden Wagen sind farbenfroh bemalt.

Und schon wieder geht es steil einen Hügel hinauf, diesmal mit dem seit 1902 in Betrieb stehenden Ascensor El Peral auf den Cerro Alegre.

Blick in die Bergstation

Arbeitsplatz des Maschinisten …

… und die imposante Antriebsanlage, welche auch schon einige Jahre auf dem Buckel hat.

Das nächste Bild des Ascensor Reina Victoria auf den Cerro Alegre zeigt die enorme Steilheit der ebenfalls über 100 Jahre alten Anlage.

Die Stadt Valparaiso hat aber auch dem Trolleybusfreund einiges zu bieten. Obwohl ich persönlich von diesem in vielen Städten als Tramkiller auftretenden Verkehrsmittel nicht viel halte, habe ich mich überwunden, für einmal zwei Aufnahmen eines solchen recht betagten Gefährts zu machen.

In Valparaiso haben übrigens auch ausrangierte Trolleybusse aus verschiedenen Schweizer Städten eine neue Heimat gefunden.