Dampf in Bulgarien 1976 (2)
von José Banaudo
In der 1. Folge haben wir von der Reise nach Tscherwen Brjag berichtet. Diese 2. Folge beginnt am 23 August 1976 um 7 Uhr. Das Wetter ist grau und es regnet. Macht nichts, denn was sich uns nun bietet, ist aussergewöhnlich, und ich hoffe Sie entschuldigen deshalb die nicht sonderlich gute Qualität der Fotos.
Im Bahnhof Tscherwen Brjag ist auf der Normalspurseite ein Güterzug nach Pleven und Gorna-Oryahovitsa abfahrbereit, an der Spitze eine deutsche Dampflok der Serie 15. Am Perron zeigt ein grosses Werbeplakat einen strahlenden Arbeiter mit dem Slogan: «1976 – Jahr der unermüdlichen Arbeit». Ich bin nicht sicher, ob ein solches Motto auch heute noch begeistern würde?!
Wir gehen nun auf die Schmalpurseite. Sie war damals der eigentliche Grund unseres kurzen Aufenthalts in Bulgarien und hier ist das Risiko auch weniger gross, übereifrigen Polizisten aufzufallen als an den Hauptgleisen. Die 606.76 (1’E1’ h2t) steht abfahrbereit vor einem Personenzug. Zwei Personenzüge fahren bis Kneja, zwei nach Byala-Slatina und nur einer fährt bis zum Endbahnhof von Orjachowo an der Donau. Links beherrscht ein Laufkran die Güterumladeanlagen zwischen Schmal- und Normalspurbahn.
Alle Züge werden von den Dampfloks 601.76–615.76 der BDŽ gefahren. Abgeleitet von der DR-Baureihe 99.7 auf den sächsischen 750 mm-Schmalpurbahnen, wurden die ersten fünf im Jahre 1941 durch BMAG Schwartzkopff geliefert. Nach dem 2. Weltkrieg folgten 10 weitere Maschinen nach den gleichen Plänen, gebaut 1949 vom polnischen Hersteller Fablok in Chrzanów. Mit einem Kesseldruck von 16 bar, 850 PS und einem Dienstgewicht von 62 t en 1949 waren diese Kraftpakete ursprünglich für die Gebirgsbahn Septemwri–Dobrinischte bestimmt. Als diese aber ab 1965 die ersten vierachsigen Henschel-Diesellokomotiven der Serie 5 erhielt, kamen die 1’E1’ h2t auf die Strecke Tscherwen Brjag–Orjachowo, wo sie die E h2t ersetzten, von welchen wir noch die letzte Maschine beim Rangieren angetroffen hatte (Folge 1).
Nun aber ! Um 7.30 Uhr setzt sich die 606.76 vor dem Personenzug in Bewegung, während zur gleichen Zeit im Normalspurteil des Bahnhofs die «Kriegslok» mit dem Güterzug abfährt. (Bilder unten)
Also noch schnell zurück, um Bilder von der Baureihe 15 zu machen.
Später im Lauf des Vormittags kommt die 609.76 mit einem Personenzug in Tscherwen Brjag an. Die 609 …?
Natürlich, die 609.76 ist heute die einzige betriebsfähige, 760 mm-spurige Dampflokomotive Bulgariens. Ich würde ihr 42 Jahre später wieder auf der Strecke Septemwri–Dobrinischte vor einem Extrazug nach Velingrad begegnen. Dieses Bild am Bahnhof Tsepina wurde bereits im Blog vom 1. November 2018 über die Bulgarienreise veröffentlicht.
Doch zurück ins Jahr 1976. Nachdem sie wieder Wasser und Kohle gefasst hat und gedreht wurde, fährt die 609.76 mittags wieder mit einem Personenzug zurück. (Bild unten)
Die in den 1960er- und 1970er-Jahren gebauten bulgarischen Schmalspurpersonenwagen sehen recht modern aus. Die relativ lange Fahrt nach Orjachowo und die bald endende Dauer unseres Transitvisums verunmöglichen uns leider, mit der Schmalspurbahn zu fahren. So beschränken wir uns darauf, wenigstens einen Tag lang die Züge ausserhalb der Stadt Tscherwen-Brjag zu fotografieren.
Die 612.76 kommt an der Spitze eines weiteren Personenzugs. Und das Lokpersonal winkt uns freundschaftlich zu.
Wie die Zugskompositionen verleihen auch die Lichtsignale dieser BDŽ-Schmalspurbahn eine moderne Note. Übrigens, im Vergleich zu den andern, an diesem Tag gesehenen Loks weist die 612.76 eine Besonderheit auf: Der Kohlenkasten scheint einem Öltank Platz gemacht zu haben. Wurde sie wie einige ihrer normalspurigen Schwestern auch ölgefeuert? Ich habe dazu bis jetzt noch keine Angaben gefunden und bin an Antworten interessiert
Als letztes wohnen wir nun noch der Abfahrt eines der beiden täglichen Güterzüge hinter der 613.76 bei. Kleine rote Sterne schmücken die Windleitbleche.
Hier ist klar, die 613.76 ist kohlegefeuert und die wertvolle Last türmt sich bis zur Grenze des Lichtraumprofils auf dem Tender. Gleich dahinter der Gepäckwagen, in dem der Zuführer mitfährt.
Noch rechtzeitig haben wir den Dampfbetrieb in Tscherwen-Brjag besucht. Denn noch vor Jahresende wurden die ersten vierachsigen Diesellokomotiven der Reihe 76 von Faur abgeliefert, die bis 1977 die gesamte Traktion übernahmen. Die grossen 1’E1’ h2t wurden abgestellt, die 605.76 diente noch als Dampfvorheizanlage bis zum Winter 1984/85. Heute sind die 609, 610, 611 und 613 in Dobrinischte, aber nur die erstere ist in betriebsfähigem Zustand für leider nur seltene Extrazüge. Die 615 steht als Denkmal vor der Verkehrsuniversität von Sofia. Was die Strecke Tscherwen Brjag–Orjachowo betrifft, so wurde sie 2002 bei einem Sparprogramm der BDŽ eingestellt. Ihre Infrastruktur wurde bei einem Hochwasser der Donau 2006 beschädigt, die Gleise teilweise von Metalldieben demontiert. Die Diesellokomotiven wurden zum grossen Teil an die Minenbahn Rio Turbio im argentinischen Patagonien verkauft.
Nun wird es Zeit, Richtung Mezdra und Sofia zurückzufahren. Doch ein letzter Zwischenfall bedroht unsere Abreise. Am Billettschalter stellen wir mit Schrecken fest, dass unsere letzten Leva nicht mehr für die beiden Billette reichen. Es ist hoffnungslos, in kurzer Zeit in dieser touristisch überhaupt nicht besuchten Stadt noch eine Wechselstube zu finden, und das Transitvisum läuft ab! Hinter uns bildet sich eine Schlange und Rekruten der bulgarischen Armee drängeln. Doch rasch begreifen sie unsere verzweifelte Lage und schenken uns die wenigen fehlenden Leva. Mein Begleiter hat noch einige Päckchen Gauloises-Zigaretten dabei, nicht für uns, sondern als typisch französisches Geschenk für die Eisenbahner und Leute, die uns behilflich sind. Rasch sind die Zigaretten verteilt und wir verlassen Tscherwen-Brjag mit den besten Wünschen auf die bulgarisch-französische Freundschaft. Am Abend sind wir in Sofia, am nächsten Tag an der jugoslawischen Grenze in Kalotina, dann im serbischen Dimtrovgrad, Niš, Beograd. Unser Interrail ist noch eine Woche gültig und wir werden es bis zur letzten Stunde ausnutzen.
Alle Fotos: J. Banaudo
Übersetzung: C. Ammann