21 Okt

Das Automationsprojekt «Ein-Personen-Rangierbetrieb» bei SBB Cargo

Eine Leistung mit hoher Wertschöpfung erbringt die Re 430 370 und ihr Lokführer am 20.9.2018: Mit 1194 t bzw. 698 m fährt sie als WLV-Ferngüterzug 60065 ohne Rangieren über mehr als 220 km von Lausanne Triage nach Basel RB. Zwischen Deitingen und Wangen an der Aare ist auch die Strassenkonkurrenz unterwegs. Foto: S. Frei

Einleitung

Im Wagenladungsverkehr sind die Sammel- und Verteilphasen aufwändige Teilprozesse mit einer geringen Wertschöpfung (kurze Distanzen), welche aber viele Ressourcen (Personal, Triebfahrzeug) binden. Der Strassenverkehr kennt diese Prozesse praktisch nicht. In der Schweiz machen die beiden Phasen aufgrund der kurzen Gesamtdistanzen im WLV zeitlich und damit auch bei den Kosten einen sehr hohen Anteil aus. Er muss also möglichst wirtschaftlich abgewickelt werden. Rangierteams bestehen heute aus 2 oder 3 Personen.

Der Rangierarbeit ist körperlich anstrengend und erfordert Tag- und Nachtarbeit. Aufgrund der Altersstruktur werden bei SBB Cargo in den nächsten 10 Jahren ein Grossteil des Rangierpersonals pensioniert. Die Rekrutierung von Nachwuchs ist schwierig.

SBB Cargo arbeitet seit längerem an der Rationalisierung des Rangierens. Ein erster Schritt war die Funkfernsteuerung der Rangiertriebfahrzeuge, welche heute bei den Eem 923, Am 843 und Tm 232 verfügbar ist.

Aufgrund der Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) strebt SBB Cargo mit drei weiteren Systemen den Ein-Personen-Betrieb im Rangieren an.

 

Automatische Kupplung

Im Test am «5L»-Demonstratorzug setzte sich die automatische Kupplung von Voith gegen jene von Faiveley (ehemals Schwab) durch.

CargoFlex-Kupplung am Sgnss 81 85 4552 002. Der Containertragwagen gehört zum 5L-Demonstrator-Zug und rollt testweise auf Drehgestellen RC25 NT-D der Eisenbahnlaufwerke Halle (ELH) mit Scheibenbremsen von Faiveley. Es bietet eine zweistufige Federung und eine Radsatzkoppelung für eine gute Radialstellung im Gleisbogen und hohe Stabilität in der Geraden. Foto: S. Frei

Voith entwickelte zusammen mit SBB Cargo auf der Basis der bewährten Scharfenberg-Kupplung Typ 10 den Typ CargoFlex. Sie funktioniert im Prinzip wie jede Scharfenberg-Kupplung, ist aber an die Anforderungen im Güterverkehr angepasst: hohe Zug- und Druckkräfte, geringe Wartung, geringes Gewicht. Gegenüber der Schraubenkupplung mit seitlichen Puffern gemäss UIC bestehen weder bei Zug- noch bei Druckkräften Einschränkungen. Das Gewicht wurde um ein Drittel reduziert sowie wartungspflichtige Schraubenverbindungen im Lastpfad eliminiert. Die Wintertauglichkeit (ohne Heizung) wurde berücksichtigt. Die Geschwindigkeit beim Kuppeln darf maximal 5 km/h betragen.

SBB Cargo setzt eine halbautomatische Version ein, die beim automatischen Ankuppeln neben dem mechanischen Kraftschluss auch selbsttätig die Hauptleitung (HL) verbindet und sich manuell von der Fahrzeugaussenseite wieder öffnen lässt. Sie kann mit der Hochdruck-Speiseleitung, einer Signal- oder Stromübertragung und/oder einem automatischen Entkupplungssystem ergänzt werden, um die pneumatische oder elektrische Versorgung von Verbrauchern, die Durchleitung von Signalen bzw. vollautomatische Funktionen zu ermöglichen.

Für die Ausrüstung von Triebfahrzeugen liefert Voith eine ebenfalls Vollbahn-taugliche «Hybridkupplung», eine Kombination der Schraubenkupplung mit Bügel und Spindel, aber ohne Zughaken, sowie der (halb-)automatischen Kupplung CargoFlex. Letztere kann nach Bedarf mit einer kleinen elektrischen Seilwinde hoch- oder runtergeklappt werden. Damit ausgerüstete Loks sind uneingeschränkt mit beiden Kupplungstypen einsetzbar. Die Puffer bleiben bei der Hybridkupplung natürlich montiert.

Am 843 064: Frontsichten der Hybridkupplung mit gesenktem (oben) bzw. gehobenem (unten) CargoFlex-Teil. Aarau, 18.8.2018. Foto: S. FreiHLL = Hauptluftleitung 5 bar (in Schweiz: Hauptleitung)
HBL = Hauptluftbehälterleitung 10 bar (in der Schweiz auch [Hochdruck-]Speiseleitung)

Re 420 280, Werk Bellinzona, 2.8.2018: Seitliche Sichten der Hybridkupplung mit der kleinen Seilwinde und dem eingesteckten Sicherungsstift. Fotos: J.D. Lüthard (oben), C. Waldis (unten)

Mitte August waren die Re 420 280 und die Am 843 064 als «Prototypen» umgerüstet. Am 22.9.2018 wurde die Re 420 277 im Werk Bellinzona gesichtet. Für einen Feldtest rüstet SBB Cargo bis Ende 2018 gesamthaft aus:

  • 75 Sgns mit der CargoFlex
  • 12 Re 420 und 10 Am 843 mit der Hybridkupplung
  • 3 Tm 232.2 mit der Rangierkupplung.

Mit diesem Rollmaterial wird SBB Cargo den Linienverkehr des eigenen Binnen-UKV ab Januar 2019 betreiben. Es handelt sich dabei zwar nicht um klassischen WLV mit zahlreichen Kupplungsvorgängen, doch werden auch bei diesem Verkehr Wagengruppen unterwegs rangiert.

Ausführliche Übersicht der automatischen Kupplungssysteme im Schienengüterverkehr: http://www.innovative-freight-wagon.de/wp-content/uploads/TIS-uebersicht-Kupplungssysteme.pdf

SBB Cargo wirbt bei den Partnerbahnen, der Industrie und den Verbänden für ein gemeinsames und zügiges Vorgehen bei der automatischen Kupplung und weiteren Innovationen, z.B.  am «Automatic Coupling Day» (DB, SNCF, ÖBB, Lineas) im Herbst 2017 in Zürich oder beim Führungsgremium von Xrail, der Produktionskooperation für den europäischen Wagenladungsverkehr (SBB, DB, ÖBB, CFL, Lineas, Green Cargo), im Sommer 2018 in Basel.

 

Automatische Bremsprobe

Die automatische Bremsprobe entwickeln SBB Cargo und RCA (Rail Cargo Austria, ÖBB-Tochter) zusammen mit PJ Messtechnik (PJM, Graz). Seit Frühling 2018 beteiligt sich auch MIR (Mercitalia Rail, FS-Tochter).

Bei der herkömmlichen Bremsprobe an einem Güterzug müssen die Bremsen von einem Mitarbeiter direkt an den Wagen auf ihre Funktionalität (Bremsen, Lösen) überprüft werden. Dies kann bei einem 500 m langen Güterzug bis zu 40 Min. dauern. Die automatische Bremsprobe soll in 10 Min. vollzogen werden. Man rechnet auch mit höherer Zuverlässigkeit und damit höherer Sicherheit.

Die automatische Bremsprobe ist eine der vielen Telematikanwendungen an Güterwagen, welche auf eine Energieversorgung angewiesen ist.

Auf den Wagen montiert SBB Cargo den WaggonTracker Advanced von PJM: Er besteht aus zwei lagerlosen Nabengeneratoren, welche in die Radsatzlagergehäuse eingebaut sind, zur Stromversorgung sowie einem Elektronikkasten, der am Rahmen montiert ist. Dieser umfasst eine zentrale Elektronik, die GPS-Ausrüstung zur Standortbestimmung, die Mobilfunk-Ausrüstung, Anschlüsse für 10 Sensoren sowie einem Akku. Die Nabengeneratoren liefern Strom ab etwa 20 km/h.Nabengeneratoren an einem Drehgestell des Sgns 81 85 4552 014. Aarau, 18.8.2018. Foto: S. Frei

Für die Bremsprobe messen Sensoren den Druck im Bremszylinder und im Bremsgestänge, d.h. in einem vierachsigen Wagen also im (einzigen) Bremszylinder und im Bremsgestänge je Drehgestell. Die Prüfung der Bremssohlen/der Bremsklötze auf einen vorschriftsgemässen Zustand ist ein Teil der Nachweisführung.

Die Daten werden regelmässig mit einer M2M-Lösung über GSM Public an einen zentralen Server der SBB Informatik übermittelt. Die Machine-to-Machine-Lösung ist eine reine und damit günstige Datenübertragung (ohne Sprachübermittlung) für das «Internet der Dinge» (zwischen Geräten).

Die Daten werden vom zentralen Server an die App auf dem Tablet des Mitarbeiters übermittelt. Die App führt den Mitarbeiter durch die Bremsprobe und dokumentiert die Messwerte.

Manuelle Arbeiten wie Hemmschuhentfernung, korrekte Bremsstellung (P, G usw.) müssen vorher erledigt werden. Auch die Bedienung des Bremsventils auf der Lok oder der ortsfesten Vorbremsanlage in Rangierbahnhöfen ist nicht integriert.

Für einen Feldversuch rüstet SBB Cargo bis Ende Jahr jene 75 Sgns aus, welche auch die automatische Kupplung erhalten.

Die zentrale Einheit des WaggonTracker Advanced ist innen am Wagenrahmen montiert.

Die aussen am Wagenrahmen montierte Meldelampe des WaggonTracker Advanced zeigt mit unterschiedlichen Farben und Dauer-/Blinklicht auch Überladung, Radscheibenüberlastung und unzulässige Lastverteilung an. Aarau, 18.8.2018. Fotos: S. Frei

Kollisionswarnsystem

Das Projekt «Kollisionswarnsystem» soll als Ergänzung der Funkfernsteuerung das Rangieren mit Fahrwegüberwachung ermöglichen und im Rangierbetrieb mehr Sicherheit bieten und deutlich Zeit sparen. In einem ersten Schritt soll das Assistenzsystem Manöver auf Anschlussgleisen bis v max 10 km/h (2,8 m/s) unterstützen. SBB Cargo testet Systeme von zwei Lieferanten auf mehreren Rangierloks.

Eem 923 024 mit dem Kamerasystem. Aarau, 18.8.2018. Foto: S. Frei

Auf der Eem 923 024 wird seit einiger Zeit «Switch Yard RV200» des israelischen Unternehmens Railvision getestet:

Auf beiden Lokfronten sind Videokameras montiert: Zwei Kameras erfassen den Raum über etwa 70 m vor der Lok. Eine Bilderkennungs-Software erfasst den Fahrweg (gemäss Weichenstellung) und Hindernisse im Fahrweg, u.a. auch Hemmschuhe. Die Erkennung der Zwergsignalbegriffe ist ebenfalls nachgewiesen, wird aber erst in einem weiteren Schritt integriert. Die Übertragungstechnik zwischen Lok und Fernsteuerungsgerät ist noch nicht festgelegt (lokales WLAN oder öffentliches Mobilfunk-Netz 4G, allenfalls 5G).

Bei einer Gefahr löst das System eine optische Warnung aus. Wenn der Lokführer nicht innert weniger Sekunden reagiert, löst es eine Zwangsbremsung aus.

Der Lokführer trägt ein (aktuell noch klobiges) Funkfernsteuergerät mit Bildschirm, auf dem er das von den Kameras aufgenommene Bild sieht. Über eine weitere Kamera kann der Lokführer wahlweise den Kupplungsraum beobachten.

Der Lokführer muss nicht mehr zur Lok gehen, wenn diese im Sinne der Rangierbewegung vorwärts fährt, sondern kann sie im Bereich des vordersten/hintersten Wagens steuern. So können insbesondere Sägefahrten mit Fahrrichtungswechsel rascher ausgeführt werden.

Die Lok soll demnächst wieder kommerziell eingesetzt werden, um das System einem dreimonatigen Praxistest zu unterziehen. Es wird parallel zur herkömmlichen Bedienung mitlaufen. Dabei soll v.a. das Systemverhalten bei schlechter Sicht wie Regen und Schneefall beobachtet werden.

 

Auf der Am 843 069 wurde bereits ab Mai 2017 das Kollisionswarnsystem des deutschen Unternehmens Bosch Engineering getestet. Es beruht auf dessen Kollisionswarnsystem für Stadt- und Strassenbahnen, bei welchem Radarsensoren Hindernisse bis etwa 180 m vor der Lok erfassen. Im Sommer 2017 wurde es auch auf der Am 843 086 installiert, je Fahrrichtung ergänzt von einer Videokamera (Cattron-Theimeg), welche den Gleisverlauf erfasst. Die Video- und Sensordaten werden kombiniert.

Das Kollisionswarnsystem von Bosch ist seit dem Frühling 2018 auch bei der BLT auf ihrem Be 6/10 180 im Einsatz (EA 5/18, NiK).

Alle Innovationsporjekte von SBB Cargo: http://sbbcargo.pageflow.io/innovation#72557