02 Jun

Lettland (4) – Güterverkehr

Von José Banaudo, Nizza,

Wir fahren weiter mit unserem Reisebericht Lettland. In der Folge 1 haben wir den Reiseverkehr vorgestellt, die elektrischen Triebwagen des Vorortsbetriebs von Rīga, die Dieseltriebwagen des Langstrecken-Regionalverkehrs und die mit Dieselloks bespannten Nachtexpresszüge Rīga–Moskau, –Minsk und –Kiev.

Nun folgen einige Eindrücke vom Güterverkehr, der vor allem den Export von Rohstoffen aus Russland umfasst. Die Ganzzüge aus Russland kommen in Zilupe, jene aus Weissrussland in Daugavpils über die Grenze nach Lettland. Beide Strecken vereinigen sich in Krustpils und führen über einen gemeinsamen Güterkorridor nach Jelgava, wo sich die Strecken nach den Ostsee-Häfen Liepāja und Ventspils verzweigen. Im Einsatz stehen 12-achsige, dieselelektrische Doppellokomotiven aus sowjetischer Produktion, gestellt von der Güterverkehrs-Tochtergesellschaft von Latvijas dzelzceļš (LDZ CARGO) oder von zwei privaten Gesellschaften, Baltijas Tranzita Serviss (BTS), gegründet 2001 in Rīga und AS Baltijas Ekspresis (BE), gegründet 1999 und in Ventspils beheimatet.

Die von LDZ Cargo verwendeten Lokomotiven tragen häufig den Namen der Rollmaterialgesellschaft LDZ ritošā sastāva serviss, die über Unterhaltswerkstätten in Rīga, Daugavpils, Jelgava und Rēzekne verfügen.

Wir beginnen unsere Reise in Rīga, wo uns ein Güterzug aus Süden auf der Dünabrücke überraschte. Es reichte nur für einen Schnappschuss, aber es war das einzige Mal, dass wir einer nicht umgebauten Doppellokomotive der Serie 2M62 auf der Strecke begegneten. Diese 12-achsige Doppellokomotiven mit 4000 PS wurden ab 1965 von der Lokomotivfabrik Oktoberrevolution in Woroschilowgrad, heute «Luhanskteplowos» in Luhansk gebaut, das sich seit 2014 in der international nicht anerkannten «Volksrepublik Luhansk» befindet.

Ein Dienstzug fährt am Triebwagendepot Rīga Vagonu Parks vorbei, wo modernisierte Dieseltriebwagenzüge der Reihen DR1AC 185 und 187 stehen. Die sechsachsige, dieselelektrische Lokomotive ChME3 4640 mit 1350 PS wurde in der Tschechoslowakei von Českomoravská-Kolben-Daněk (ČKD) gebaut. Etwa 8200 Exemplare wurden von 1963 bis 1994 als Serie T 669 an die tschechoslowakische Staatsbahn, aber auch nach Polen, Albanien, Syrien, den Irak, an die Breitspurbahnen in Indien und in die Sowjetunion geliefert. LDZ Cargo besitzt davon 55 Fahrzeuge, eingesetzt im Rangierbetrieb, zur Bedienung von Anschlussgleisen und für Bauzüge. Wir begegneten ihnen überall in Lettland.

Das Dieseldepot Rīga befindet sich im südöstlichen Vorstadtgebiet in Daugmale. Eine öffentlich zugängliche Passerelle führt über die Gleise des Bahnhofs, des Depots und des Rangierbahnhofs, also ein herrlicher Fotostandort. Man kann hier die vier wichtigsten Streckenlokomotiven in Lettland bewundern, von links nach rechts die TEP70 0267, eingesetzt im Personenverkehr von und nach Russland, die 2M62U 0126, die 2TE10U 0220 und die umgebaute 2M62UM 0093. Wir begegneten den letzten beiden Serien vor schweren Güterzügen während unserer ganzen Reise.

Die sechsachsige M62 1615 vor der Rotunde des Depots Daugmale. Diese Lokomotiven wurden 1965–1996 in über 3000 Exemplaren in der Lokomotivfabrik von Woroschilowgrad/Luhansk gebaut, für Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR (wo man sie Taigatrommeln nannte), Kuba, Nordkorea, die Mongolei und natürlich die Sowjetunion. Etwa 30 der 917 an die UdSSR gelieferten Loks sind noch im Bestand von LDZ Cargo. Ursprünglich waren sie mit Dieselmotoren vom Typ 14 D 40 ausgerüstet, ein Zwölfzylinder-Zweitaktmotor, der Lokomotivfabrik Kolomna, abgeleitet von einem Vorkriegsmodell von General Motors.

Dieseltraktoren sind in den baltischen Staaten selten. Der dieselhydraulische dreiachsige TGM23 BV 2601 mit Stangenantrieb, hier in Daugmale, gehört zu einer Serie, die in rund 9000 Exemplaren von 1962 bis 2006 in der russischen Lokomotivfabrik Murom gebaut worden ist. Die Version BV wurde ab 2011 in den RSS-Werkstätten von Rīga modernisiert und mit einem 540 PS-Motor von Volvo ausgerüstet.

Die sechsachsigen ChME3 3967 und 3614, gebaut von der tschechoslowakischen ČKD, hier im Depot Daugmale, werden im Raum Rīga für Rangieraufgaben und Zustellfahrten benützt.

Wir betraten das Depot über einen öffentlichen Weg, begrüssten einen Eisenbahner, der uns ebenfalls grüsste und begannen Fotos zu machen. Doch plötzlich kam dieser Eisenbahner, brachte uns in ein Dienstlokal und sagte « polis, polis ». Sein Kollege telefonierte und wir warteten nun über eine Stunde auf das Eintreffen der Bahn- und der örtlichen Polizei, die sich erstaunt über den Übereifer des Eisenbahners zeigte. Wir wurden sehr höflich behandelt, der Form halber wollte man unsere Ausweise sehen. Dann verabschiedeten wir uns mit englischen und russischen Sprachbrocken in gutem Einvernehmen. Wie um sich zu entschuldigen meinte ein Eisenbahnpolizist: Wir sind hier zwischen Europa und Russland. Das ist nicht so wie bei Ihnen!

Die Lokomotive ChME3M 6149 rangiert 3 Güterwagen zum Ablaufberg des Rangierbahnhofs von Daugmale. Es handelt sich ursprünglich um eine vierachsige, dieselelektrische ČKD-Lok, wie auf den vorherigen Bildern, aber nach einem Totalumbau ab 2011 in den RSS-Werkstätten von Rīga mit einem Caterpillar-Motor von 1550 PS umgebaut.

Hier nochmals eine vierachsige ChME3 aus tschechoslowakischer ČKD-Produktion, die 4847, hier im Bahnhof Pavinas an der Hauptachse Rīga–Daugavpils. Vor dem Einsatz im lokalen Güterverkehr auf der Linie nach Gulbene, putzte der Lokführer sorgfältig mit einem Lappen die Stirnseiten. Die meisten Lokomotiven befinden sich in einem sehr gepflegten Zustand.

Im Bahnhof Krustpils verzweigen sich die Strecken Rīga–Daugavpils (welche die beiden grössten Städte Lettlands miteinander verbindet) und Zilupe–Jelgava (als Achse von Russland zu den baltischen Häfen, mit einem intensiven Güterverkehr). An einem Sonntagmorgen fährt ein Güterzug mit gemischtem Wagenpark durch den Bahnhof, an der Spitze die achtachsige Doppellok 2TE116 559, mit 4500 PS, die in 1723 Exemplaren von 1971 bis 2007 von den Lokomotivwerken von Woroschilowgrad/Luhansk gebaut wurde.

Immer noch in Krustpils : Die schweren Züge nach Weissrussland und Litauen folgen sich auf Blockdistanz. Hier ist die 2TE10U 0221 an der Spitze, eine achtachsige Doppellok mit 4400 PS, die in 548 Exemplaren von 1989 et 1996 an die Bahnen der Sowjetunion bzw. Russlands geliefert wurde.

Hier sind wir in Ventspils an der Ostsee, wichtiger Exporthafen für Erdöl und Kohle aus Russland. Die ČKD-Lokomotive ChME3 3488 formiert einen langen Kesselwagenzug, der leer zurück nach Russland fahren wird.

Immer noch im Rangierbahnhof Ventspils. Die Doppellok 2TE116 1494 steht abfahrtsbereit vor dem Kesselwagenzug, und wir wollen sie etwas weiter von der Strasse aus, ausserhalb des Bahngeländes, fotografieren. Doch nun kommt ein Eisenbahner per Auto angefahren, zeigt uns einen LDZ-Ausweis und spricht von « Dokument » und « Polis »… Gleiches Szenario wie in Daugmale : Telefonanruf, ein Eisenbahnpolizist kommt, prüft unsere Ausweise ohne grosse Begeisterung, denn auch er teilt den Übereifer der Eisenbahner nicht. Offenbar haben gewisse Eisenbahner in Lettland noch immer die alten Reflexe der sowjetischen Zeit bewahrt, ganz im Gegensatz zu Estland und Litauen, wo uns solches nie passiert ist.

Mit dieser nicht so erfreulichen Episode endet diese Folge. Doch bevor wir Lettland verlassen, erwarten uns noch sehr schöne Entdeckungen !

Alle Fotos: J. Banaudo

Übersetzung: C. Ammann